Melanie VogltanzAutorenhomepage
HomeVeranstaltungenVeröffentlichungenPorträtGedankenhausKontaktDatenschutzerklärung
Verirrt in mir

Diese Geschichte funktioniert am besten ohne einleitende Worte.

Zuerst habe ich auf den kalten Fliesen gefroren. Nun wird mir wunderbar warm. An meinen Beinen ist heiße Feuchtigkeit, die schwer zu Boden tropft.
Tropf.
Tropf.
Tropf.
In meinem Kopf ist es leicht. Ich fühle mich wohl, obgleich ich weiß, dass ich schreckliche Schmerzen hätte verspüren müssen. Meine Schmerzen sind aus meinem Körper geflossen. Aus der klaffenden Wunde zwischen meinen Schenkeln. Tropf.
Ein leises Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Wie ist es so weit gekommen? Hätte ich es verhindern können? Hätten die anderen es verhindern können?
Ich schließe die Augen, lausche auf das stete Geräusch, mit dem Qual und Leben meinen Leib verlassen. Dieses verfluchte Fleisch, das mir schon bei meiner Geburt den Atem abgepresst hat, seinen Druck um meine Seele immer weiter verstärkte, bis sie vollständig zerquetscht war, wie ein Milchkarton in der Hand eines ungeduldigen Kindes, durch dessen Finger weißes Blut läuft.
Ein Kind … Als ich ein Kind war, war ich sehr häufig zornig. Meine Hilflosigkeit nährte die Wut in mir. Ich erinnere mich noch gut daran, als meine große Schwester ihren siebenten Geburtstag feierte. Sie trug ein lilienfarbenes Kleid, das am Saum und am Kragen mit Rüschen in Form von Blumen besetzt war. Ich fragte meine Mutter, ob ich auch so eines haben könne, sobald ich sieben war.
Ihr harter Blick traf mich. »Nur Mädchen tragen Kleider. Kleine Jungs werden ausgelacht, wenn sie sich so anziehen. Willst du das etwa?« Hitze schoss mir ins Gesicht, und ich schüttelte schweigend den Kopf. Ich wagte es kein weiteres Mal, meine Mutter darauf anzusprechen. Später schlich ich mich heimlich in den Wandschrank meiner Schwester, wenn sie in der Schule war. Ich bewunderte ihre bunten Röcke und fröhlichen Blusen, die hübschen Püppchen mit dem langen Haar.
Eines Tages kam mein Vater früher nach Hause und erwischte mich an den Sachen meiner Schwester; er packte mich am Genick und schleifte mich aus dem Zimmer, die Lippen fest zusammengepresst. Dabei sagte er kein Wort. Wie alle anderen vor und nach ihm schwieg er über das, was er sah.
Meine Eltern hatten Angst, weil sie merkten, dass ich anders war. Dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich war abnormal. Sie ließen es mich spüren. Und so lernte ich dazu. Ich lernte, dass Jungs blau und Autos mochten, Mädchen aber rosa und Ponys. Werkzeug war für mich bestimmt, Kochlöffel für meine Schwester. Ich war kein dummes Kind – ich hatte verstanden.

 Ich keuche auf, als nun doch eine Lohe des Schmerzes durch meinen Unterleib fährt. Meine Hände verkrampfen sich, fahren haltlos über die schlüpfrigen Fliesen.
Vielleicht ist es nur der Schmerz der Erinnerung. Denn nun schiebt sich ein neues Bild vor meine trüber werdenden Pupillen. Mein Geist flieht aus dem stickigen Badezimmer, reist zurück in die Vergangenheit.
Als ich zwanzig war, entdeckte ich das Internet für mich. Was ich fand, verwirrte und verstörte mich. Hatten meine Eltern recht? War ich krank, nicht normal? Niemand bezeichnet eine Frau als psychisch beeinträchtigt, wenn sie Jeans trägt oder Mechanikerin werden will. Nicht einmal dann, wenn sie mit ihrer Freundin einen Zungenkuss austauscht, ist sie das. Aber wir Männer werden zu Patienten, die man behandeln muss, sobald wir über den Tellerrand hinaus lugen.
Ich entdeckte Berichte über Behandlungen, über Medikamente. Da es uns nicht erlaubt ist, uns wie Frauen zu benehmen, müssen wir zu Frauen werden. Mein anfängliches Interesse für Operationen und Hormontherapien wandelte sich rasch in Ekel um, als ich Bilder von Männern sah, die dies mit sich gemacht hatten. Es waren Monster, weder männlich noch weiblich. Darwins Albtraum.
Andere Seiten erregten mein Interesse, dunkle Seiten, die mein Virenprogramm auf Hochtouren laufen ließen. Ich fand eine Adresse, notierte sie und brach in der folgenden Nacht auf. In einer finsteren Seitengasse fand ich den Eingang zu jenem Etablissement, das meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Kein Zutritt unter achtzehn, Sicherheitspersonal am Eingang. Schmierig lächelnde Typen, die meinen Ausweis zu lange begafften.
Als ich eintrat, hüllte mich tiefe Dunkelheit ein. Dumpfe Musik wummerte in meinem Schädel, ließ meine Schläfen vibrieren. Ich sah mich um. Männer und Frauen. Frauen und Männer. Die Grenzen verschwammen ineinander, ich sah den Unterschied nicht mehr.
Mir schwindelte, also setzte ich mich auf einen freien Hocker an der Theke und bestellte Alkohol. Nach einiger Zeit legte mir jemand die Hand auf die Schulter. Ein warmes Lächeln unter einem herben Drei-Tage-Bart. Er ließ mir nachschenken. Immer wieder seine Berührungen. Ich wurde betrunken.
Wir endeten auf der Toilette. Nur eine Erinnerung blieb mir bis heute im Gedächtnis: der bittere Geschmack auf meiner Zunge, mit dem ich noch am nächsten Morgen erwachte.
Ein mieser Kerl war das gewesen, das wusste ich nun. Doch er hatte mir einen Gefallen getan. Ich hatte mich niemals wieder in diese Art von Schuppen gewagt. Dort würde ich gewiss nicht auf Gleichgesinnte treffen. Also kehrte ich zurück zu meiner alten Lebensweise, ohne sie jemals wirklich verlassen zu haben.
Noch im selben Jahr trat Nicole in mein Leben. Sie war eine gute Freundin meiner Schwester, und ich lernte sie zufällig bei einer Geburtstagsfeier kennen. Sofort stach sie mir ins Auge, denn sie hatte wunderschönes langes Haar, wie aus Gold gesponnen. Was gäbe ich für solches Haar!
Wir unterhielten uns gut, ihre blitzenden Augen hafteten an mir. Ihr weicher, kleiner Mund lächelte unentwegt. Er schmeckte nach Honig, nach Himmeltau. Bald darauf sahen wir uns wieder, diesmal zu zweit, unbeobachtet. Ich witterte meine Chance auf ein Stück Glück, glaubte, sie zu lieben. Ich bemühte mich so sehr!
»Du bist ein besonderer Mensch«, sagte ich zu ihr, indem ich nach ihrer schmalen Hand fasste. »Ich möchte mein Leben mit dir verbringen.«
Sie fiel mir um den Hals und bedeckte mich mit Küssen.
Wir verbrachten ein paar wunderbare Jahre, Nicole und ich, garniert mit zärtlichen Liebesbekundungen, täglich frisch und liebevoll serviert. Wir tranken vom Kelch der Liebe, saugten jeden Tropfen in uns auf – aber der Brunnen, die Quelle fehlte uns. Und ich konnte nicht aus meiner Haut heraus, oder besser gesagt, aus meinem Geist. Ich nähte mir Röcke aus altem Jeansstoff, die ich daheim trug, wann immer ich alleine war. Ich stahl Nicoles Make-up, kaufte selbst welches und versteckte es. Als wir eines Abends vor dem Fernseher saßen, Nicoles Kopf lag in meinem Schoß, schrak sie plötzlich zusammen. Ich hatte zu weinen begonnen, und eine meiner Tränen war auf ihre Stirn gefallen.
Tropf.
»Warum weinst du?«, sagte sie, und ich antwortete: »Ich weine doch nur, weil ich so glücklich bin.« Sie umarmte mich und küsste meine Tränen fort. Ich liebte diesen Duft nach Frühling, der sie umgab.
Wenn ich bemerkte, dass ich ihre Sachen bewunderte, lachte sie über mich. Sie hielt es für einen Scherz. Der Scherz hielt an. Ich begriff, dass sie ihn für ermüdet hielt und sagte nichts mehr.
Meine Angst wuchs, ich fürchtete mehr und mehr, sie durch meine Abnormität zu verlieren. Mir grauste so sehr vor der Einsamkeit, diesem alten Bekannten, der so lange mein einziger Gefährte gewesen war. Deshalb warf ich mich eines Tages vor Nicole auf die Knie und stellte die Frage. Tränen stiegen ihr in die Augen, ihre Unterlippe bebte, als sie meine Hände ergriff und »Ja« hauchte. Wir waren die glücklichsten Menschen.
 
Ich lache leise. Vor meinen Augen tanzen schwarze Punkte, kreisen mich mehr und mehr ein. Meine arme Nicole. Ich habe niemals gewollt, dass es so weit kommt. Dass ich sie so sehr verletzen muss. Sie war meine einzige Liebe, der einzige Mensch, bei dem ich mich jemals geborgen fühlte. Ihr zuliebe hätte es anders ausgehen sollen, anders ausgehen müssen.
Aber es ging eben doch so aus:
Einige Wochen vor der Hochzeit. Wir waren nicht konservativ, wir kauften das Kleid gemeinsam. Ein wunderschönes, perlenweißes Kleid, dessen Saum in Wellen über den Fußboden floss. Strahlend wie die Sonne war es, mit kunstvollen Nähten bestickt, welche die Form von lieblichen Blumen und Vögeln hatten. Mir stockte der Atem, als ich es sah. In meinen schönsten Träumen hatte ich so etwas noch nicht gesehen!
Meinen Anzug kauften wir auch. Schwarz. Ein weißes Hemd. Blaue Seidenkrawatte. Mein Gesicht lächelte, als ich bezahlte.
Die Tage verstrichen, das große Ereignis rückte näher. Nicole war mit ihren Freundinnen ausgegangen, um nach altem Brauch die letzte Zeit der Freiheit vor der Ehe auszukosten. Händeringend ging ich in der Wohnung auf und ab, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich betrat das Schlafzimmer, öffnete den Schrank. Da war es! Unter der Hülle aus Plastik sah es aus, als wäre es von einer hauchdünnen Eisschicht überzogen. Mit zitternden Händen nahm ich es aus dem Schrank, breitete es behutsam auf dem Bett aus. Ich schälte es vorsichtig aus seinem gläsernen Sarg, streichelte über den seidigen Stoff. Die Verlockung war übermächtig, ich streifte Hemd und Hose ab und tauchte in die weiße Pracht ein.
Unter dem Kleid war es ganz still. Ich erstarrte unter dem weiten Rock, schloss die Augen. Nachdem ich eine ganze Weile so verharrt war, begann ich, das Kleid vollends überzuziehen. Ich quetschte meine Arme durch die eng geschnittenen Ärmel, streckte den Kopf durch den Ausschnitt. Ein hässliches Reißen erklang, und die Ärmel waren nicht mehr so eng. Ich drängte weiter, an der Hüfte platzte eine Naht auf. Ich biss mir auf die Unterlippe, zwängte mich vollends hinein.
Dann stand ich vor dem Spiegel. Das Kleid war zerstört. Überall lugte meine blasse Haut hervor, weite Risse vernichteten den Traum.
Als Nicole spät nachts zurückkam, fand sie mich, noch immer in ihrem Hochzeitskleid, schluchzend vor dem Spiegel. Ich hatte mich zu einer winzigen Kugel zusammengerollt, wollte klein und immer kleiner werden, bis ich verschwunden war. Sie schrie, brüllte mit hochrotem Kopf. Dann weinte auch sie, warf Sachen nach mir, beschimpfte mich. Schließlich stürmte sie hinaus, und ich hörte nur noch, wie irgendwo vor dem Fenster ein Wagen angelassen wurde und mit quietschenden Reifen davonfuhr.
 
Das ist nun schon einige Stunden her. Als ich keine Tränen mehr hatte, stand ich auf und ging ins Badezimmer. Der Saum des Kleides umwallte dabei meine Füße, als würde ich auf Wolken schreiten. Ich nahm mir eine große Schere und setzte mich auf die eiskalten Fliesen. Den langen, endlos langen Rock raffend, suchte ich nach dem Verursacher für all mein Leid. Voller Hass war die Bewegung, mit der ich ihn schließlich packte.
Und dann, endlich, befreite ich mich von ihm.
Vom eigenen Fleisch erdrückt, bis ich keinen Atem mehr hatte. Gefangen im eigenen Körper.
Mit einem müden Lächeln beobachte ich, wie mehr und mehr rote Blumen auf dem weißen Kleid zu wachsen beginnen. Die Pfützen um mich herum sind mittlerweile so groß, dass ich fürchte, darin zu ertrinken.
Bald. Sehr bald.
Lebewohl, Nicole. Lebt wohl, Mutter und Vater. Niemand von euch ist schuld an diesem Ende. Meine Seele hat sich verirrt, ist in den falschen Leib geschlüpft. Macht euch keine Sorgen. Der Fehler ist korrigiert, alles wird gut.
Ich löse mich aus der erdrückend engen Hülle. Langsam gleite ich daraus hervor, schwebe höher und höher. Ein letztes Mal blicke ich auf mein Fleisch hinab, erkenne mich nicht darin.
Zeit, meinen wahren Körper zu suchen.
 
 
12.05.2011
Nichts Besonderes
Sternenrequiem
Der Schattenmann
Der Höhenflug
Der Hafen
Luzif(w)er?
Nacktfalter
Der Krähe Nest
Verirrt in mir
Im Nebel
Wundes Ackerland
HomeVeranstaltungenVeröffentlichungenPorträtGedankenhausKontaktDatenschutzerklärung