Dass diese besondere Geschichte eines ganz und gar nicht besonderen Ereignisses in diesem Bereich steht, hat seinen ganz besonderen Grund. Hierbei handelt es sich nämlich um meinen aller ersten tatsächlichen Versuch, eine Kurzgeschichte zu schreiben, denn davor hatte ich ausschließlich an Romanen und Gedichten gearbeitet. "Nichts Besonderes" schaffte es in die engere Wahl des "sprichcode"- Jugendliteraturwettbewerbs, erwies sich dann jedoch als nicht besonders besonders, und bei dieser Auswahl blieb es denn auch.
Und nun genug der einleitenden Worte.
Nur besondere Geschichten erzählen sich selbst – dies ist keine solche.
Der Morgen ist nicht anders als all die anderen zuvor. Als ich erwache und auf die Digitalanzeige meines Weckers schiele, blinken mir die Leuchtziffern 9:32 grell und penetrant entgegen, schmerzen in meinen müden, an die Dunkelheit meiner Lider gewöhnten Augen und machen mich schlagartig wach.
Zu spät. Viel zu spät.
Ich strample mir die Decke vom Leib und springe aus dem Bett. Mit raschen, koordinierten Handgriffen ziehe ich mich an. Es ist nicht das erste Mal, dass ich meinen Wecker verschlafe, und ich bin auch nicht sonderlich überrascht darüber, dass es heute geschehen ist. Ich frage mich nicht, weshalb nicht gestern oder morgen oder warum überhaupt. Es hätte keinen Sinn, sich solche Fragen zu stellen. Nicht an einem Tag wie diesem, der so normal ist, dass nicht einmal der Wecker die Notwendigkeit sieht, mich über seinen Beginn zu informieren.
Ich lasse das Frühstück aus, ebenso wie die halbe Morgentoilette. Als ich mir die Zähne putze, beiße ich fast in meine Haarbürste, weil ich versuche, zwei Dinge zugleich zu erledigen. In eiliger Hast verlasse ich die Wohnung, werfe die Tür hinter mir zu und stürme, immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Im zweiten Stockwerk strauchle ich, stürze und schlage mir die Knie blutig. Zum Glück ist heute kein besonderer Tag, denn ansonsten hätte ich mir wahrscheinlich meine teure Baumwollhose angezogen und sie in meiner Eile ruiniert. Aber hätte ich denn an einem besonderen Tag überhaupt verschlafen? Ich weiß es nicht genau, denke aber, dass dem nicht so ist. Besondere Tage verschläft man nämlich nicht. Dafür sind sie zu wichtig – das weiß sogar der Wecker.
Mein Bus ist schon lange über alle Berge, ich gehe zu Fuß zur Schule. Auf halbem Weg beginnt es zu regnen, und ich tröste mich erneut mit dem Gedanken, dass meine weiße Hose sicher aufgehoben in meinem Kleiderschrank hängt und sich dort bester Gesundheit erfreut.
Triefend nass und mit Schlammspritzern an den Hosenaufschlägen platze ich mitten in den Unterricht. Alle Blicke richten sich auf mich, und der Lehrer, ein kleines, dickbäuchiges Männlein mit Halbglatze, presst seine dünnen Wurmlippen zu einem blutleeren Strich zusammen, als er mich gewahrt.
»Zu spät«, teilt er mir in seiner unermesslichen Weisheit als geschulter Pädagoge mit.
Ich empfinde seine Bemerkung als überflüssig, schweige jedoch.
»Entschuldigung«, sage ich nur und möchte mich setzen.
Das Männlein hält mich mit einer abgehackten Geste zurück. Seine durch die fingerdicken Brillengläsern stark vergrößerten Augen fixieren mich, als wäre ich ein besonders saftiger Wurm und er eine ausgehungerte Krähe, die sich schon den ganzen Morgen auf diese Zwischenmahlzeit freut.
»Das ist schon das dritte Mal innerhalb dieser Woche«, krächzt die Krähe.
Ich kann ein Schulterzucken nicht unterdrücken.
»Heute ist Mittwoch«, fügt der Lehrer übermäßig betont hinzu.
Ist an diesem Mittwoch denn etwas anders als an denen zuvor? Ich überlege schon, ob ich dem Männlein diese Frage stellen soll, doch seine purpurne Gesichtsfarbe lässt mich meinen Einfall noch einmal rasch überdenken. Peinlich berührt winde ich mich an ihm vorbei und verkrieche mich auf meinen Platz in der letzten Reihe.
Die Krähe hat ihre Überlegenheit gegenüber dem Wurm ausreichend verdeutlicht. Die Spatzen im Raum haben die Szene genauestens beobachtet und gesehen, dass es nicht schlau ist, einem größeren Vogel seinen Platz auf dem Telefonmast streitig zu machen. Der reguläre Unterricht kann fortgesetzt werden.
Ich höre nicht wirklich zu. Die kriechenden Zeiger meiner Uhr sagen mir, dass es nur noch zwanzig Minuten dauert, bis die Pausenglocke mich erlöst. Zwanzig endlose Ewigkeiten, in denen die Krähe mit uns ihre unendliche Weisheit teilt, die sie aus den Gärten des Wissens gestohlen hat und mit denen sie nun ihr leeres Nest schmückt. Die Inhalte der leeren Zeilen, die wir automatisiert in unsere Hefte schreiben, kenne ich schon. Vielleicht haben wir dasselbe Thema in der dritten Klasse durchgemacht. Oder in der zweiten. Vielleicht in der fünften? Sogar gestern wäre möglich. Kein besonderer Stoff. Nur Schule. Ich schalte ab und schicke meine Gedanken auf Reisen.
Zwischendurch muss ich kurz eingenickt sein, denn als ich den Kopf das nächste Mal hebe, ist die Krähe verschwunden, und rege Lebendigkeit erfüllt den Klassenraum, der während der Anwesenheit eines Lehrers so grau und deprimierend wirkt. Jemand hat das Radio, das eigentlich für Unterrichtszwecke bestimmt ist, eingeschalten. Ein schwer verdaulicher, durch Mark und Bein dringender Bass mischt sich in das muntere Geplapper der Schüler.
Wir dürfen keine Musik in den Pausen hören. Trotzdem tun wir es jeden Tag. Niemanden kümmert es.
Ich verschlafe den restlichen Schultag komplett, nur das Ende der Stunden entgeht mir niemals. Das Läuten der Pausenglocke ist weitaus verlässlicher als das meines Weckers. Ich überlege mir, auch eine für daheim anzuschaffen. Aber eine, die nur zu den Pausen läutet, nie zu den Stunden. Dass das nicht möglich ist, kümmert mich nicht. Der Gedanke gefällt mir.
Nach dem Unterricht raffe ich meine Sachen zusammen und mache mich auf den Heimweg. Vor dem Schulgebäude werde ich von einer Freundin abgefangen.
»Hast du heute Nachmittag etwas vor?«, will sie wissen.
Ich muss einen Moment über ihre Frage nachdenken. Nein, ich habe nichts vor. Ich werde daheim sitzen und versuchen, nicht an die Hausaufgaben zu denken, die mich mit stummen, anklagenden Blicken durch den Stoff meiner Schultasche hindurch taxieren werden.
»Nichts Besonderes«, sage ich nur.
Meine Freundin scheint zufrieden. Sie kenne einen neuen Film mit guten Rezensionen – eine Standardgeschichte, nichts weiter als ein weiteres Remake eines schon lange abgedroschenen Themas, aber durchaus sehenswert. Ob ich nicht Lust habe, mit ihr ins Kino zu gehen?
Ich habe keine Lust, aber das zu sagen, wäre unhöflich.
»Keine Zeit«, lüge ich also stattdessen. Ich verwende dieses Satz oft, obwohl er nie zutrifft. Denn die Zeit ist etwas, das immer da ist. Meine Freundin weiß das, aber sie gibt sich zufrieden mit dieser Antwort. Das tut sie immer.
Wir trennen uns – sie folgt der 16., ich der 13. Straße. Der Abschied ist alltäglich und ereignislos. Wir wissen, dass wir uns morgen wiedersehen werden. Um wieder auseinanderzugehen. Und uns erneut wiederzusehen. Lebewohl verliert seine Bedeutung in der Banalität des Alltags.
Ich warte drei Minuten auf den Bus, dann steige ich ein, suche mir einen freien Platz am Fenster uns setze mich. Meine Tasche bekommt ebenfalls einen eigenen Sitzplatz, direkt neben mir, damit mich die anderen Fahrgäste mit ihrer Anwesenheit nicht stören. Bestimmt ist das auch nur in ihrem Interesse.
Ich sehe aus dem Fenster, doch die Außenwelt ist von der verzerrten Spiegelung meines eigenen Gesichtes verdeckt. Alles, was ich sehe, sind meine eigenen Augen, die mir müde aus der endlosen Schwärze einer imaginären Spiegelwelt entgegenstarren. Ich weiß nicht, was es jenseits dieser Augen gibt. Wenn ich wissen möchte, in welcher Station wir halten, lausche ich auf die monotone Stimme aus den Lautsprechern, die mir freundlich meinen Standpunkt mitteilt. Manchmal, wenn der Busfahrer das Band unwissentlich in falscher Reihenfolge laufen lässt, werden Straßen zu früh oder zu spät genannt, doch heute nicht. Alles ist wie immer und daher gut und richtig.
Meine Station wird ausgerufen. Ich nehme meine Tasche an mich und steige aus.
Den Bezirk, in dem ich wohne, findet man in keinem Reiseführer. Als ich auf die Straße trete, schlägt mir der bestialische Gestank von Abgasen, Urin und anderen Dingen entgegen, deren genauen Ursprung ich lieber nicht kennen möchte. Die Menschen bewegen sich sehr schnell hier, halten den Kopf gesenkt und vermeiden jeden Blickkontakt. Hektik und Nervosität schwängern die Luft wie schwarzer, erstickender Qualm, dringen aus jeder Ritze, jeder Spalte und verpesten die Atmosphäre. Ich zolle dem keine Beachtung, denn der Anblick ist zu alltäglich, als dass ich mich noch darüber hätte wundern, geschweige denn beschweren können.
Als ich in eine Nebengasse einbiege, stolpere ich beinahe über die ausgestreckten Beine eines Mannes, der zusammengesunken am Wegesrand hockt und aus entzündeten Augen zu mir hochstarrt. Das Bild eines unrasierten, rustikalen Gesichtes blitzt vor meinen Augen auf, Haut, so rissig wie trockenes Pergament und von zahlreichen geplatzten Äderchen durchzogen, dann ist der Eindruck verschwunden. Ich bin weitergegangen und erleichtert, diesem Gesicht entkommen zu sein. Ich erlaube Schuldgefühl und Ekel nicht, einen Kampf in meinem Inneren auszufechten. Das ist auch gar nicht nötig, denn nichts davon ist mir neu. Mich kann nichts mehr erschüttern, und ich glaube, das ist auch gut so.
Am Wegesrand liegen einige wenige Spritzen, verstreut neben grünen und weißen Glasscherben und alten Zigarettenkippen. Der Anblick macht mich weder traurig noch befangen. Manchmal wechseln unvorstellbar dicke Geldbündel in dieser Straße den Besitzer, und kleine, weiße Päkchen wandern durch zittrige, graue Finger. Ich selbst habe diese Dinge mit eigenen Augen beobachtet, aber ich schweige mich diskret darüber aus, so wie es jeder tut. Oft muss ich an meine Volkschulzeit denken, in der Petzen als unverzeihliche Todsünde galt. Zivilcourage ist im Grunde nichts anderes. Die Bedeutung hat sich nicht verändert, nur das Wort und das Umfeld. Ich sehe keinen Unterschied und habe keine Lust, als Bösewicht oder Spielverderber dazustehen. Und solange alles bleibt, wie es ist, solange alles möglichst schlicht und ohne Besonderheiten abläuft, kann ich die Augen schließen und so tun, als wäre nie etwas geschehen.
Ich gehe weiter, unberührt von der Flut an nur zu bekannten Fragen, die über mich hinwegrollt, ohne mich zu erfassen.
Hast du ein bisschen Kleingeld?
Brauchst du Stoff?
Darf ich dir ein Kind machen?
Quatscht mich nur an, es juckt mich nicht. Nein, das tut es nicht im geringsten. Solange ihr immer mit denselben Fragen kommt und mich nicht überrascht, solange alles bleibt, wie es ist, bin ich zufrieden und kann euch ignorieren, so tun, als gebe es euch gar nicht.
Bald bin ich daheim. Der Gedanke beruhigt mich und lässt mich meine ungastliche Umgebung vergessen.
An einer vielbefahrenen Kreuzung bleibe ich stehen. Wie übergroße, hässliche Käfer schießen die stinkenden Autos an mir vorbei und husten mir dicke Wolken giftiger Abgase entgegen.
Die Ampel springt von Rot auf Grün. Der routinierte Fußgänger in mir nickt mir wohlwollend zu, und ich gehe los, wie ich es jeden Tag tue.
Ich sehe nicht den blauen Volvo, der allen Verkehrsgesetzen zum Trotz direkt auf mich zurast. Ich höre nicht den entsetzten Schrei der Frau, die am Straßenrand steht und verzweifelt die Hände vors Gesicht schlägt. Nicht einmal das erbärmliche Quietschen der Bremsen erreicht mich wirklich, sondern verwandelt sich in meinem Wahrnehmungsvermögen in das Kreischen einer waidwunden Kreatur, die sich in purer Agonie aufbäumt – aufbäumt wie ein Pferd, dem man eine Heugabel in den schlanken, muskulösen Hals rammt.
Eisen verbeißt sich in Fleisch, und ich fühle mich von einer göttlichen Hand hoch emporgehoben. Wie eine willenlose Puppe in einem Orkan werde ich durch die Luft geschleudert und überschlage mich, rolle hilflos über das Dach des Volvos, reiße die Antenne mit mir. Ich spüre keinen Schmerz, obwohl meine Welt mit einem Mal in Blut getaucht ist. Für einen kurzen Moment muss ich wieder an meine Baumwollhose denken.
Mit unvorstellbarer Wucht schlage ich auf dem Asphalt auf, und alle Luft entweicht pfeifend aus meinen Lungen. Das Knacken von Knochen dröhnt zwischen meinen Schläfen wider und klingt seltsam surreal, nicht greifbarer als die Erinnerungen an einen fernen Traum. Alle Kraft flieht aus meinen Gliedern, fast ist mir, als würde ich schrumpfen, mit jedem vergeblichen Atemzug, der meine Lungen mit Blut anstelle von Sauerstoff füllt. Dann wird der Boden unter meinen Füßen weggezogen, und ich falle, falle tief hinab in die Unendlichkeit, ohne Halt und Ziel. Fast ist mir, als würde ich schweben, in eine wunderbar sanfte, verlockende Schwärze eintauchen, die mich in ihre mütterliche Umarmung schließt und weit davonträgt, so weit, dass es keine menschlichen Begriffe dafür gibt.
Als ich die Augen öffne, ist meine Welt weiß und steril. Alles ist sauber und ordentlich, nur ich fühle mich schmutzig und fehl am Platz. Über meinem Kopf schweben verschwommene, helle Flecken, Gesichter, die mich aus kühlen, berechnenden Augen betrachten. Es hätten Engel sein können, weiße, flügellose Engel in langen, reinen Gewändern, doch ich weiß, dass ich nicht wichtig genug bin, als dass sich ein solches Wesen meinetwegen auf die Erde herab bemühen würde.
Nur langsam schälen sich klare Umrisse aus der verwaschenen Schwärze, die mein Gesichtsfeld erfüllt.
»Kannst du mich hören?«, fragt die Stimme des Engels, der kein Engel sein kann.
Ich sage nein und die Stimme lacht über meinen unangebrachten, schwarzen Humor. Es klingt hohl und unecht. Ich bekomme es mit der Angst zu tun, als ich begreife, dass etwas nicht stimmt.
»Weißt du, was geschehen ist?«, werde ich gefragt.
Ich bin mir nicht sicher, also ziehe ich es vor, zu schweigen. Die Stimme erklärt mir mit sachlicher Distanziertheit, dass ich von einem PKW erfasst wurde. Und dass ich stundenlang ohne Bewusstsein war.
»Du kannst von Glück reden, dass jemand vor Ort rechtzeitig die Rettung verständigt hat.«
Die Infusionen in meinen Venen und der Geschmack nach Blut auf meiner Zunge erlauben mir nicht, von Glück zu reden, also lasse ich es bleiben. Stattdessen frage ich, wie schlimm es ist.
Der Arzt, der kein Engel ist, macht es mir leichter. »Schlimm.«
Er erzählt mir über innere Blutungen, über Quetschungen und Knochenbrüche. Sein Bericht, der klingt, als würde er ihn aus einem Sachbuch für Medizin zitieren, interessiert mich nicht besonders. Nur die letzten Worte brennen sich mit glühenden Lettern in mein Hirn und lassen mich leise seufzen.
»Wir müssen dich einer sehr riskanten Operation unterziehen. Wenn wir es nicht tun, wirst du sterben. Vielleicht überlebst du diesen Eingriff nicht, aber es ist deine einzige Chance.«
Für einen Moment ist es sehr still in dem kleinen, weißen Raum. Irgendwo summen eisige, herzlose Maschinen, die angesichts dieser ergreifenden Szene keinerlei Taktgefühl zeigen, ihr einsames Lied.
»Es tut mir leid«, sagt der Arzt in das bedrückende Schweigen hinein.
Ich sehe in seine Augen und begreife plötzlich mit unerschütterlicher Gewissheit, dass es keine Hoffnung für mich gibt. Der Arzt sagt nichts, um mir das Gegenteil zu beweisen. Ob es sich bei dem Ausdruck auf seinen Zügen um Mitleid handelt oder ob er schlichtweg peinlich berührt ist angesichts dieser unangenehmen Situation, kann ich nicht feststellen, doch ich vermute, dass es letzteres ist. Es gibt viele Fälle wie mich. Tausende Menschen sterben jährlich an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Ich bin nicht die erste. Nichts Besonderes. Ich bilde mir nichts auf mein Schicksal ein.
Plötzlich muss ich an den Wecker denken, und ich frage mich, ob sich all das hätte verhindern lassen, wäre dies ein besonderer Tag gewesen. Ich hätte nicht verschlafen und wäre rechtzeitig zum Unterricht gekommen. Danach hätte ich vielleicht noch Lust gehabt, mit meiner Freundin ins Kino zu gehen, und wäre einen vollkommen anderen Weg gegangen als jenen, der mich in dieses Krankenbett führte. Wäre dies ein besonderer Tag gewesen, hätte die Busansage eine falsche Station genannt und ich wäre frühzeitig ausgestiegen. An einem besonderen Tag hätte mich einer der verwahrlosten Gestalten mit einer neuen Frage überraschen können, einer Frage, die sich nicht mit einem einfachen Nein beantworten ließ und die mich vielleicht für Minuten beschäftigt hätte. An einem besonderen Tag hätte ich die Straße bei Rot und nicht bei Grün überquert. Alles wäre anders gewesen. Besonders.
Zum ersten Mal in meinem Leben begreife ich, dass die Banalität hinterlistig und teuflisch ist, weil sie ihre wahre Natur hinter der Maske des Harmlosen verbirgt.
Das Bett unter mir setzt sich langsam in Bewegung, und ich höre das monotone Rattern der Rollen auf dem Linoleum, als sie mich in den OP schieben. Kalte Augen über beängstigenden Mundschutz-Masken starren ausdruckslos an mir vorbei, wagen es nicht, mit mir in Blickkontakt zu treten.
Morgen, denke ich, morgen wird mein Name in der Zeitung stehen. Ich weiß noch nicht, in welcher oder unter welcher Schlagzeile, nur, dass es so sein wird. Sie werden nicht um mich weinen, aber sie werden an mich denken. Dann, dessen bin ich mir bewusst, wird dieser Tag in den Augen der Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnen, so oder so. Dass er aber weder für mich noch für den Rest der Welt ein besonderer Tag war, wird niemand vermuten. Und dass sie niemals von diesem Tag erfahren hätten, wäre er es doch gewesen.
Die Welt ist nicht gerecht, und das Schicksal ist ein launisches Kind, das sich grausame Szenarien zu seinem eigenen Amüsement erdenkt. Szenarien, die so grässlich normal sind, dass sie unser Leben okkupieren, ohne dass wir auch nur einen Gedanken an Gegenwehr verschwenden.
Noch mit diesen Gedanken im Hinterkopf, entfaltet die Narkose ihre betäubende Wirkung. Ich denke an blaue Volvos, grüne Ampeln, saubere Baumwollhosen und ein Lebewohl ohne Bedeutung, und dann entschwebe ich auf weißen, bauschigen Wattewolken einem Ort entgegen, der still ist und wunderschön, ein Ort ohne Wiederkehr…
|