Melanie VogltanzAutorenhomepage
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Der Höhenflug
"Der Höhenflug" ist eine Kurzgeschichte, die mir half, meine Nervosität vor Schularbeiten abzubauen. Die Botschaft, die sich hierbei herauskristallisiert hat, beschäftigte mich noch lange nach Abschluss dieser Geschichte - und hat mich auch zuvor stets beschäftigt. Machen Sie sich einfach ein eigenes Bild; natürlich sind Sie herzlichst eingeladen, mir Ihre Gedanken zu dieser Geschichte mitzuteilen.

Ich knabberte an den Spitzen meiner Strähnen, während ich gleichzeitig meine schweißnassen Handflächen an der Hose trocken rieb. Das hämmernde Pochen an meinen Schläfen machte jeden klaren Gedanken unmöglich, ebenso wie der harte, glühend heiße Knoten, zu dem mein Magen sich gewunden hatte.
Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und der Anspannung, das meine Nerven singen ließ wie bis zum Zerreißen angespannte Bogensehnen, begleitete mich nun schon, solange ich denken konnte. Es war zu einem ständigen, lauernden Begleiter geworden, ein stiller Zuschauer, der in meinem Hinterkopf saß und seinen Auftritt abpasste. Man mochte annehmen, etwas, das sich so stetig wiederholte wie diese immer wiederkehrende, lähmende Unsicherheit, würde über die Jahre an Schrecken verlieren. Doch das Gegenteil war der Fall. Eher erschien es mir, als würde der Geschmack von Adrenalin mit jedem Mal ein wenig intensiver, das taube Kribbeln in den Fingern stechender, der schwarze Schatten im Hinterkopf ein wenig dunkler.
Ein Stoß in die Seite ließ mich aufblicken. Richard, mein Sitznachbar, hatte das Gesicht halb zwischen den Händen vergraben, trotzdem konnte ich das halbherzige Grinsen auf seinen Zügen erahnen. Im Grunde kannte ich ihn gar nicht – man hatte uns zu Beginn der Stunde versetzt, aus sozialen Gründen, die zu einleuchtend waren, um sich darüber zu beschweren, und so erschöpfte sich mein Wissen über ihn bereits mit der Kenntnis seines Namens.
»Warum so verkrampft?«, fragte Richard und ließ endlich die Hände sinken. Seine Augen schimmerten feucht, als hätte er kürzlich gegähnt. »Wird schon schief gehen.«
Ich verzog die Lippen zu etwas, das ein Lächeln sein mochte. Unter der Tischplatte umfasste ich meine Knie mit beiden Händen und packte so fest zu, als wollte ich die Knochen aus den Gelenken stemmen. »Wir werden sehen«, erwiderte ich schwach.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, was mich leicht zusammenfahren ließ. Als die Tür wieder ins Schloss fiel, bohrten sich meine Fingernägel so tief in das Fleisch meiner Oberschenkel, dass es schmerzte. Meine Verkrampfung steigerte sich ins Unermessliche, als die Stimme ertönte – die, obgleich sie nicht immer derselben Person gehörte, in diesen ganz besonderen Momenten immer gleich klang.
»Ich werde die Angabezettel jetzt durchgeben. Ihr dürft sie umdrehen, sobald ich euch Bescheid gebe. Danach habt ihr fünfzig Minuten Zeit.«
»Viel Glück«, zischte Richard an meiner Seite.
Ich nickte bloß abwesend. Meine Augen hatten sich auf dem Stapel Papier festgesaugt, der nun durch die Sitzbänke gereicht wurde.
Zeitgleich mit der Anweisung, die Blätter zu wenden, schaltete sich mein bewusstes Denken ab. Erst, als die Pausenglocke ertönte, schrak ich aus meiner Trance auf und legte den Stift beiseite, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich ihn in die Hand genommen hatte. Ein letzter rascher Blick auf das Geschriebene, dann erhob ich mich auf meine noch immer etwas unsicheren Beine und gab die Blätter dem Lehrer, der bereits die bisher erhaltenen Arbeiten schlichtete. Erst, als ich die Tür hinter mir ins Schloss gezogen hatte, wagte ich es, aufzuatmen.
 
Auf dem Nachhauseweg nahm ich entgegen meiner üblichen Gewohnheiten nicht den Bus, sondern überquerte die Straße und bog in eine der zahlreichen dunklen Seitengassen ab, um meinen Weg abzukürzen. Für gewöhnlich mied ich Gegenden wie diese, doch die nächste Klassenarbeit war bereits in drei Tagen, und ich hatte noch nicht einmal mit dem Lernen begonnen. Wenn ich noch rechtzeitig schaffen wollte, den Stoff durchzuarbeiten, musste ich jede freie Minute nutzen. Allein der Gedanke, unvorbereitet eine Arbeit zu schreiben, trieb mir den kalten Schweiß auf die Stirn.
Schon nach wenigen Schritten bereute ich meine Entscheidung. Die Straßen waren menschenleer, dafür voller Unrat und im Laufe der Zeit von unzähligen Füßen zu grauem Staub zermahlen, als wären die Wege schon seit Jahrzehnten nicht mehr geteert worden. Verwaiste Wohnblöcke drängten sich aneinander wie verängstigte Tiere, während ihre glaslosen und teils mit morschen Brettern vernagelten Fenster wie leere Augenhöhlen auf mich herabstarrten. Als ich in die Seitengasse eingebogen war, hatte die Sonne sich noch an den Himmel geklammert wie eine hartnäckige Orange an einen jungen, starken Zweig, doch hier, zwischen all den traurig in sich zusammengesunkenen Häuserreihen, schien bereits tiefste Nacht zu herrschen. Die Straßenlampen, die von Zeit zu Zeit wie utopische Gewächse aus dem Boden brachen, schienen schon seit Jahren nicht mehr funktionsfähig, und als ich mir eine der Lampen näher besah, entdeckte ich, dass die Einfassung leer war – sah man von Dreck und Getier ab, die sich darin eingenistet hatten.
Hatte ich die Gasse anfangs noch im Laufschritt durchquert, so verlangsamte ich meine Schritte nun und bewegte mich so vorsichtig, als bestünde der Boden aus feinstem Kristallglas. Meine Umgebung ließ ich keinen Moment lang aus den Augen, und bei jedem Stück Abfall, das der Wind vor meine Füße trieb, schreckte ich von Neuem zusammen.
Ich folgte einer Abzweigung, in der Hoffnung, sie würde mich wieder auf die Hauptstraßen führen, und fand mich unvermittelt in einer Sackgasse wieder. Ich zerbiss einen Fluch auf den Lippen, unterdrückte die in mir hochwallende Panik und wandte mich um, als ein ohrenbetäubendes Krachen und Scheppern mich einen regelrechten Satz machen ließ.
»Keine Sorge, das sind nur die Katzen.«
Als eine Hand mich unvermittelt von hinten an der Schulter fasste, konnte ich einen spitzen Aufschrei nicht mehr unterdrücken. Mit einem Ruck fuhr ich herum. Ohne dass ich es bemerkt hätte, war ein schmächtiger Mann von hinten an mich herangetreten. Bei den schlechten Lichtverhältnissen vermochte ich nicht mehr zu erkennen als seine Umrisse. Trotzdem glaubte ich zu spüren, dass er lächelte – und aus einem Grund, den ich nicht zu nennen vermocht hätte, gefiel mir dieses Lächeln nicht.
»Verdammtes Viehzeug. Stößt die Mülltonnen um. Riesen Schweinerei ist das. Man sollte dieses elendige Pack ersäufen.«
Ich erwiderte nichts. Obwohl der Fremde unmöglich mehr sehen konnte als ich, spürte ich seine abschätzenden Blicke auf mir ruhen.
»Was macht ein junges Ding wie du um diese Uhrzeit noch draußen, noch dazu in so einer Gegend?«
Wäre ich nicht so damit beschäftigt gewesen, Angst zu haben, hätte ich vermutlich über diese Frage gelacht. Wenn mich mein Zeitgefühl nicht trog, konnte es kaum später sein als sechs Uhr – eine Tatsache, die diesem Spruch, der schon in hundert Räuberpistolen breitgetreten worden war, noch lächerlicher erscheinen ließ.
Oder erscheinen gelassen hätte – wäre er mir nicht so eiskalt durch Mark und Bein gefahren.
Dementsprechend schwach und klischeehaft fiel auch meine Antwort aus.
»Ich habe mich verirrt.«
»Ja, das dachte ich mir schon.« Das Lächeln in seiner Stimme wurde breiter. Geimeiner. »Wenn du möchtest, kann ich dir helfen, den richtigen Weg zu finden. Wo wohnst du?«
Unvermittelt knirschte ich mit den Zähnen. Meine inneren Alarmglocken schrillten so laut, dass ich meine eigene Antwort kaum verstehen konnte. »Nein danke, ich komme zurecht.«
Der Fremde schnalzte mit der Zunge. »Bullshit. Jetzt stell dich doch nicht so an, ich will dir ja nur einen Gefallen tun.«
Und welchen Gefallen soll ich dir im Gegenzug tun?, dachte ich bei mir.
»Das ist wirklich sehr freundlich …«, setzte ich an, »aber …«
»Warum denn so förmlich?«, unterbrach der andere mich. »Ich bin bestimmt keine zwei Jahre älter als du.« Erst jetzt registrierte ich neben der schmächtigen Gestalt des anderen seine schwankende Stimme, die immer wieder zwischen zwei Oktaven balancierte. Der Kerl war kein Mann, sondern nicht mehr als ein Halbwüchsiger.
Was mich jedoch nicht im geringsten beruhigte.
»Ich bin der Jan. Und wie heißt du?«
Ich räusperte mich unbehaglich. »Ich muss jetzt wirklich weiter. Ich habe es eilig.«
Jan lachte heiser. »Kannst es wohl kaum erwarten, dich komplett zu verfransen, hä?«
Ich schwieg beschämt, was Jans Lachen noch verstärkte.
»Aber lass mal gut sein«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, »so ein Schwein bin ich auch wieder nicht. Wenn du mir nicht sagen möchtest, wo du wohnst, zeig ich dir eben den Weg zur Hautpstraße. Von dort kommst du ja wohl allein weiter. Was meinst du, ist das ein Deal?«
Ich setzte bereits zu einer weiteren Ablehnung an, als ich meinen Widerspruch im letzten Moment hinunterschluckte und widerwillig nickte. Wenn ich nicht auf Jans Angebot einging, würde ich noch die ganze Nacht ziellos umherirren, und wer vermochte schon zu sagen, wen die Dunkelheit sonst noch ausspeien würde? Wahrscheinlich war Jan noch harmlos gegen das, was die Schatten zwischen den kauernden Häusern verbargen.
»Hey, Mädchen! Bist du eingepennt, oder was?«
Jans ungeduldige Stimme riss mich aus meinen düsteren Überlegungen, und viel zu spät begriff ich, dass er mein Nicken in der Dunkelheit gar nicht sehen konnte.
»Ja«, brachte ich hervor. »Ja. Zeig mir den Weg.«
Jan grummelte etwas Unverständliches. Seine Hand streifte meine Schulter. »Da lang.«
Für Minuten folgte ich dem nur undeutlich sichtbaren Schemen, der Jan war, während ich meine gesamte Konzentration darauf verwenden musste, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Dass ich mich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hatte, berührte mich nur am Rande. Mittlerweile war mir alles gleich – Hauptsache, ich konnte endlich wieder eine Straße betreten, die beleuchtet war.
»Willst du mir vielleicht jetzt deinen Namen verraten?«, fragte Jan nach einiger Zeit.
Ich zögerte nur einen Moment. »Magdalena.«
»Maggy. Ist ja zucker
»Nein, nicht Maggy«, erwiderte ich um einige Grad kühler. »Magdalena.«
»Meinetwegen. Warum hast du dich verlaufen, Maggy?«
Ich zog missbilligend die Nase kraus, verbesserte ihn jedoch nicht noch einmal. »Ich wollte meinen Weg abkürzen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Was ja bestens funktioniert hat.« Er ließ sein heiseres Lachen hören. »Und was war so dringend, dass du dafür durch dieses Rattenloch kriechen musstest?«
»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht«, gab ich eisig zurück.
Jan kicherte dreckig. »Tut mir leid, wollte dir da nicht zu nahe kommen. Ist ja gar nicht meine Art, in der schmutzigen Wäsche anderer zu wühlen.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich scharf.
Jan zuckte mit den Schultern. »Dass ich meine Nase nicht in Dinge stecke, die mich nichts angehen. Das ist alles.«
»Wenn du es denn unbedingt wissen willst: ich habe noch etwas für die Schule zu tun.«
»Die Schule, was? Ja, die Penne kann einen echt fertig machen.«
In diesem Fall musste ich Jan Recht geben – die Penne, wie er es nannte, konnte einen fertig machen …
Vor allem dann, wenn man seit sechs Jahren in Folge jeden Jahrgang mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen hatte und ein jeder erwartete, dass sich diese Leistung ganz eigenständig und ohne größere Anstrengung wiederholte. Bei diesem Gedanken biss ich mir unvermittelt auf die Unterlippe, so fest, dass ich Blut schmeckte.
Wer ganz oben ist, kann verdammt tief fallen.
»Aber so muss es nicht sein«, sagte Jan. »Manchmal ist das Leben viel einfacher, als man denkt.«
»Ach, ist es das?«, fragte ich ohne sonderliches Interesse.
»Da kannst du Gift drauf nehmen!« Unvermittelt blieb Jan stehen und wandte sich zu mir um. Zum ersten Mal konnte ich sein Gesicht erkennen – die hageren, ausgezehrten Züge eines Menschen, dem das Leben mehr gestohlen als geschenkt hat, die rot geäderten, schwarz unterlegten Augen, deren ungesund gläserner Glanz beunruhigte, und ein auffälliges, kleines Ziegenbärtchen, das deplatziert aus seinem spitzen Kinn spross.
»Ich mag dich, Maggy«, sagte er, »und deshalb möchte ich dir etwas schenken.«
Er fasste in die Tasche seiner zerschlissenen Jacke und holte ein kleines, unscheinbares Päckchen hervor. Als er es mir reichte, griff ich automatisch danach. Beinahe hätte ich es wieder fallen gelassen, als ich die winzige Menge weißen, fein geriebenen Pulvers darin bemerkte.
»Ich nehme keine Drogen!« Ich wollte Jan sein »Geschenk« zurückschieben, doch im Gegensatz zu mir reagierte er gar nicht auf meine heftigen Gesten.
»Scheiße, nein! Das sind doch keine Drogen!«, widersprach er beinahe entsetzt. »Ich würde dir doch niemals Drogen anbieten. Überhaupt möchte ich mit diesem Zeug nichts zu tun haben. Das hier«, er deutete auf das Päckchen, »ist nur ein kleiner Muntermacher. Eine Lernhilfe. Wie Kaugummi, verstehst du? Regt die grauen Zellen an.«
»Behalte deine Scheiße«, zischte ich und hielt ihm zum wiederholten Mal das Säckchen unter die Nase.
»Überleg´s dir«, riet Jan, während er meine Fuchtelei ohne ein Zucken der Wimper über sich ergehen ließ. »Du musst es ja nicht schlucken, wenn du nicht willst. Ich zwing dich zu nichts. Nimm´s einfach mit, ´s ist ja geschenkt. Und wenn du denkst, du brauchst es nicht, kannst du´s ja immer noch weggeben. Aber es ist wirklich nichts Schlimmes dran. Glaub mir, Prüfungen fallen einem viel leichter, wenn man ein paar Ventile im Hirn öffnet, die normalerweise geschlossen sind.«
»Ich brauche keine bewusstseinserweiternden Mittelchen, um meine Prüfungen zu schreiben«, sagte ich scharf.
Jan zuckte die Achseln. »Dann ist´s ja gut. Obwohl«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »du den anderen gegenüber im Vorteil wärst.. Ich meine, da eröffnen sich einem doch ungeahnte Möglichkeiten.«
»Wenn man stoned ist?« Ich lachte auf. »Vergiss es, okay? Ich mache so etwas nicht. Ich brauche so etwas nicht.«
»Gut.« Jan nickte.
»Ich werde jetzt besser gehen.« Ich wollte Jan das Päckchen in die Hände drücken, doch er hob die Arme über den Kopf und winkte lächelnd ab. »Lass mal gut sein. Ich hab dir etwas geschenkt, und dabei bleibt es. Was du damit machst, ist ganz allein deine Sache. Meinetwegen spül es die Toilette runter.«
»Das mach ich vielleicht«, erwiderte ich spitz.
»Tu das.« Jan nickte mir bekräftigend zu, hob eine Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen. Ohne den Gruß zu erwidern, sah ich schweigend zu, wie er sich entfernte, das Plastiksäckchen noch immer mit einer schweißnassen Hand umklammernd. Zu spät fiel mir ein, weshalb Jan mich überhaupt begleitet hatte, und ich setzte bereits dazu an, ihn zurückzurufen, als ich bemerkte, dass ich längst am Ziel angelangt war – ohne, dass es mir selbst aufgefallen wäre, hatte er mich zur Hauptstraße geführt. Das erklärte auch die besseren Sichtverhältnisse – einige dutzend Schritte weiter brannte bereits die erste Straßenlaterne.
Das Päckchen noch immer fest im Griff, machte ich mich auf den Heimweg.
Warum ich es Jan nicht einfach vor die Füße geworfen hatte, begriff ich selbst nicht.
Doch nein, das stimmt nicht. Ich begriff es durchaus. Doch ich wollte es nicht begreifen.
Und so schob ich das Säckchen im Gehen in die Tasche im Innenfutter meines Mantels, mit dem festen Vorsatz, meine Prophezeiung zu erfüllen und das Zeug in den Abfluss zu schütten, sobald ich zu Hause angekommen war.
 
Kaffee ist ein scheußliches Zeug. Es schmeckt widerlich, erzeugt Mundgeruch und im schlimmsten Fall sogar Kopfschmerzen, und obendrein verfärbt es die Zähne. Das alles war mir mehr als bewusst und hatte dazu beigetragen, dass ich von diesem Getränk meist die Finger ließ.
Ohne ein Verziehen der Lippen leerte ich meine vierte Tasse und strich mir eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht. Vor meinen Augen verschwammen die winzigen Buchstaben auf dem Papier, das ich vor mir ausgebreitet hatte, und ich fühlte mich seltsam leicht und meinem eigenen Körper entrückt. Ich wusste, dass ich längst hätte zu Bett gehen sollen, doch das konnte ich einfach nicht. Noch nicht.
Ein Kapitel. Nur noch ein Kapitel. Dann würde ich Schluss machen. Zehn Seiten, das schaffte ich noch. Ich würde mir noch einen Kaffe aufbrühen, schwarz, aber mit viel Zucker, und dann noch dieses eine verdammte Kapitel durcharbeiten, und dann würde ich das Licht abdrehen und schlafen. Keine Zeit für die Dusche, keine Zeit für einen Kleiderwechsel. Hauptsache, mir blieb noch Zeit für den Schlaf.
Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand fuhr ich über meine Mundwinkel, die sich seltsam trocken anfühlten. Ich schmatzte lautstark, um den bitteren Geschmack des Kaffees loszuwerden, und las den Absatz, den ich eben beendet hatte, nochmals. Und noch einmal. Und noch einmal.
Ich schluckte und schüttelte heftig den Kopf, um das Gesicht dann mit einem Seufzen zwischen den Händen zu verbergen. Diesen Absatz las ich nicht erst vier Mal – ich hatte das Gefühl, ihn schon stundenlang durchzugehen, ohne ein einziges Wort zu behalten – was wahrscheinlich daran lag, dass diese Anhäufung von Buchstaben auf mich mittlerweile nicht sinnvoller wirkte als das geschäftigte Getümmel von Ameisen. Es hatte keinen Sinn, es war, als wollte ich Wellen auf einer stark bewegten Wasseroberfläche festhalten.
Ich schlug das Buch zu und warf es in eine Ecke meines Zimmers, wo es anderen Arbeitsunterlagen mit frischen Eselsohren und Kaffeeflecken Gesellschaft leistete. Es war vorbei. Kein einziges Wort würde ich mir heute mehr merken. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch alles, was ich bisher so mühsam gelernt hatte, wieder vergessen. Ich hätte heulen können.
Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Kissen. Als ich meine Finger im Bezug verkrallte, ertastete ich etwas Unförmiges, Glattes, das sich kalt in meiner Hand anfühlte. Instinktiv zog ich es hervor und erkannte das Säckchen, das Jan mir vor knapp sieben Stunden aufgedrängt hatte. Das hatte ich vollkommen vergessen. Abwesend knetete ich es zwischen meinen Fingern, ohne dabei einen wirklichen Gedanken zu formulieren. Ich betrachtete es bloß, mit leerem Blick und leerem Kopf, den Schlaf bereits im Nacken. Unbewusst schmatzte ich wieder und leckte mir über die spröden Lippen.
Nicht minder unbewusst schob ich das Päckchen mit dem unheilvollen Inhalt zurück unter den Kissenbezug. Ich stieß Mappen, Hefte und Bücher vom Bettrand, die ich im Laufe des Abends dort abgelegt hatte, und drehte das Licht ab.
Ich war eingeschlafen, kaum dass die Lampe erloschen war.
 
In den folgenden Tagen schlief ich kaum – die fehlende Nachtruhe wog ich mit literweise Kaffee auf, dessen Geschmack mich zum Würgen reizte, und später, auf die Empfehlungen einiger Schulkollegen, mit diversen Energydrinks verschiedener Marken, die noch widerwärtiger schmeckten und so viel Zucker enthielten, dass ich ihn zwischen meinen Zähnen knirschen zu hören glaubte. Was meine Lernerfolge anbelangte, so trat ich auf der Stelle. Wenn ich nach der Schule heimkam, nie vor sechs Uhr abends, setzte ich mich sofort vor meine Unterlagen und begann, darüber zu brüten. Doch der Stoffumfang war zu groß, die Zeit zu knapp, mein Körper zu zerschlagen. Hätte ich keinen einzigen Blick in die Bücher geworfen, ich hätte denselben Effekt erzielt.
Das kleine Päckchen in meinem Kopfkissen vergaß ich beinahe vollständig. Erst in der Nacht vor der Prüfung holte ich es geistesabwesend hervor und ließ es durch meine Finger gleiten. Es fühlte sich gut an in meinen Händen. Richtig.
Was es nicht war! Natürlich war es das nicht. Das vergaß ich keinen Augenblick lang. Ich würde das Zeug nur so lange behalten, bis ich es, ungesehen von meinen Eltern, loswerden konnte – nur deshalb besaß ich es überhaupt noch.
Vielleicht war morgen der richtige Tag, einen Schlussstrich zu ziehen und Jan und seine zweifelhafte Ware für immer zu vergessen. Versuchen musste ich es zumindest. Das war ich mir schuldig.
Ich verstaute das Päckchen an derselben Stelle im Mantelfutter, die ihm auch schon einige Tage zuvor als Versteck gedient hatte. Als ich diese Nacht das Licht ausmachte, fühlte ich mich auf merkwürdige Weise ruhiger – trotz der gewaltigen Mengen an Koffein, die durch meine Adern flossen, war ich so klar und nüchtern wie schon seit Tagen nicht mehr.
In den drei Stunden, die mir bis zum Weckerläuten noch verblieben, schlief ich tief und traumlos.
 
Beim Frühstück bröselte ich auf die Seiten einer aufgeschlagenen Mappe, die ich anstelle eines Tellers ins Zentrum meines Platzes geschoben hatte. Meine Mutter hatte mich bereits mehrere Male angesprochen, doch ihre Stimme drang nicht wirklich zu mir durch und verursachte mir lediglich hämmernde Kopfschmerzen. Das belegte Brot, an dem ich lustlos kaute, schob ich nach drei Bissen von mir – drei Bissen, die ausgereicht hatten, mir heftige Übelkeit zu bereiten.
Als ich an diesem Tag die Wohnung verließ, nahm ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten den Fahrstuhl. Noch während sich die automatischen Türen schlossen, glitt meine Hand in meinen Mantel und tastete nach der kaum fühlbaren Ausbeulung im Futter. Vor meinen Augen blinkte die digitale Anzeige der Stockwerke: Fünf, vier, drei, zwei, eins … Erdgeschoss – Pling!
Vor dem Tor zu unserem Wohnkomplex steht ein großer Müllcontainer. Dinge die hier verschwinden, verschwinden für immer.
Als ich vier war, hatte ich hier einen der Fische meines Vaters bestattet, der mich gelehrt hatte, dass Tiere mit Kiemen sich nicht dazu eignen, von tollpatschigen Kinderhänden liebkost zu werden. Anstatt meine Liebe zu erwidern, hatte er sich heftig gewunden, war mir durch die Finger geflutscht und in meinem Schoß gelandet. Als ich versuchte, nach ihm zu greifen, entglitt er mir und kam auf dem Boden auf, wo er sich unter panischen Flossenschlägen unter die Kommode katapultierte. Ich bekam ihn erst zu fassen, als es bereits zu spät war.
An diesem Nachmittag meldete ich mich zum ersten Mal in meinem Leben freiwillig, den Müll rauszubringen.
Bei diesem Gedanken huschte ein flüchtiges Lächeln über meine Lippen.
Im Grunde verändert die Zeit uns nicht – sie erschafft bloß einen Schein der Veränderung, bedeckt uns mit einer verkrusteten Schicht aus Heuchelei und Selbstbetrug. Alles, was wir tun müssen, ist, daran zu kratzen, und schon kommt wieder jenes alte, unzerstörbare Bild zum Vorschein, das wir längst abgelegt zu haben glaubten.
Und so immitierte ich ein Verhalten, das mir als vierjähriges Mädchen ebenso naheliegend erschienen war wie heute, mehr als zwölf Jahre später.
Vielleicht hätte sich jemand über die einzelne, zerrissene Plastikverpackung gewundert, die ich in den gewaltigen Behälter aus Eisen warf, wäre denn ein Zuschauer zur Stelle gewesen, mich zu beobachten. Doch eigentlich glaubte ich es nicht. Sich zu wundern hat dieser Tage stark an Beliebtheit eingebüßt – nur wenige Liebhaber der alten Zunft sind diesem Attribut bis in die Gegenwart treu geblieben.
Auch ich selbst war eine Vertreterin moderner Gesinnungen. Ich wunderte mich nicht – nicht über meine Entscheidung und auch nicht über die Leichtigkeit, mit der ich sie getroffen hatte. An so etwas verschwendete ich gar keinen Gedanken. Dafür war ich viel zu sehr damit beschäftigt, all das, was ich in den vergangenen Tagen vergeblich in mein Hirn zu pressen versucht hatte, nun aus den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses hervorzukratzen.
Und damit, den bitteren Geschmack auf meiner Zunge und in meiner Kehle mit heftigem Schlucken entgegenzutreten.
 
Die Arbeit dauerte zwei Stunden. In dieser Zeit fühlte ich mich wie elektrisiert. Meine Hand, die sich in verkrampfter Haltung an den Stift klammerte, zuckte über die Zeilen, und ich begriff kaum, was ich da überhaupt schrieb. Der entrückte Zustand, in den mich eine Prüfungssituation seit jeher versetzt hatte, hielt mich auch diesmal gefangen, doch unter dem Einfluss des bitter schmeckenden Pulvers in meinem Rachen verstärkte er sich noch um ein Vielfaches. Lange bevor die Glocke mit ihrem schrillen, misstönenden Läuten den Ablauf der Zeit verkünden konnte, stemmte ich mich in die Höhe – so mühsam, dass ich im ersten Moment ernsthaft fürchtete, zu stürzen – , und ging steifbeinig zum Lehrerpult, um das Geschriebene auf die Tischplatte zu knallen. Nur am Rande registrierte ich den eiskalten Schweiß, der mir in den Kragen meines Pullovers lief.
In diesem Moment blickte der Lehrer auf, und er schien mich zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, und ich bin sicher, er hätte es getan – doch da überkam mich der Brechreiz, und ich presste eine Hand vor den Mund und stürzte aus dem Klassenraum.
Nur einen knappen halben Meter vor der Toilettentür entleerte sich mein Mageninhalt.
Wir erhielten die Prüfungsergebnisse nur wenige Tage darauf. Die Stimmung war allgemein gedrückt – nicht nur ich war mit dem Prüfungsstress diesmal nicht zurande gekommen. Dementsprechend lief ein unterdrücktes Stöhnen und Ächzen durch den Raum, als der Lehrer mit einem Packen uns nur zu bekannter Papierbögen eintrat und in erwartungsvoller Haltung hinter dem Pult Aufstellung nahm. Auch er wirkte verstimmt und unzufrieden mit der erbrachten Leistung, doch nichts, was er beim Korrigieren unserer Arbeiten empfinden mochte, war vergleichbar mit den Existenzängsten, mit denen wir täglich kämpften. Jemand, der jahrzehntelang den Aufstieg und Fall hunderter junger Menschen mitverfolgt, lässt sich von einzelnen Schicksalen nicht mehr berühren. Wie könnte unser Versagen ihn da mehr treffen als ein defektes Zahnrädchen in der gewaltigen Maschinerie eines Fabrikbesitzers?
Kommentarlos gab er unsere Arbeiten zurück, nur bei mir verharrte er etwas länger als bei den anderen.
»Magdalena«, sagte er. Es klang wie eine Feststellung. Er musterte mich über die Ränder seiner Brillengläser hinweg, ein Blick, dem ich kaum standzuhalten vermochte. Als er mir meinen Bogen reichte, tat er es beinahe mit Widerwillen.
»Wie zu erwarten die beste Arbeit.«
Wie zu erwarten. Innerlich krümmte ich mich unter diesen Worten wie unter einem Hieb. Wie zu erwarten. Wer hatte das zu erwarten? Er? Meine Eltern? Die neidische Meute in meinem Rücken, die mich nun mit funkelnden Augen beobachtete und gedämpft flüsternd Gemeinheiten durch den Raum schickte?
Ja. Sie alle hatten das zu erwarten. Sie alle.
Rasch ließ ich die Blätter in meiner Mappe verschwinden. Hinter mir lachte jemand hell und laut. Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich Gabriella – Notendurchschnitt vier Komma zwei – die sich zu ihrer Sitznachbarin gebeugt hatte. Diese streckte gerade demonstrativ den Finger in den Rachen und deutete dann mit unverhohlener Offenheit in meine Richtung. Meine Entgleisung nach Ende der Prüfung war niemandem entgangen.
Es war mir gleich. Vollkommen gleich. Ich hatte Wichtigeres zu tun als mir Gedanken zu machen über einen Haufen Kindsköpfe.
Viel Wichtigeres.
 
Zuerst befürchtete ich, er würde nicht kommen. Warum sollte er auch? Schließlich hatten wir uns weder einen Treffpunkt ausgemacht, noch eine Uhrzeit vereinbart. Wenn man es genau betrachtete, war es sogar sehr unwahrscheinlich, dass er kam.
»Schon wieder vom Weg abgekommen, was?«
Wie schon beim ersten Mal sprach er mich von hinten an, und wieder war er mir unbemerkt viel näher gekommen, als ich es eigentlich für möglich gehalten hätte. Als ich mich zu ihm umwandte, war er mir so nahe, dass ich seinen sauren Atem riechen konnte.
»Nein«, sagte ich. »Das hier ist der richtige Weg.«
Jan lachte heiser. »Wenn du´s sagst. Also? Was willst du? Dich für mein Geschenk bedanken? Warst wohl doch nicht im Scheißhaus damit.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln, trotz der Abscheu, die ich vor Jan empfand. »Du hattest Recht. Es hat wirklich geholfen.«
»Da geht einem der Kopf auf, was? Und was willst du jetzt von mir?«
Er wusste ganz genau, was ich wollte, und ich hasste ihn dafür, dass er mich zwang, es auszusprechen.
Ich zögerte mit meiner Antwort und ließ immer wieder den Blick über die wie leer gefegten Gassen wandern. »Nächste Woche ist eine wichtige Prüfung«, begann ich umständlich. »Wenn ich sie nicht bestehe, würde das meinen Notendurschnitt negativ beeinträchtigen. Ich werde lernen, so gut ich kann, doch ich habe noch andere Fächer, um die ich mich kümmern muss.«
»Und?«
Es gelang mir nur mühsam, die in mir aufgestaute Wut hinunterzuschlucken. »Ich brauche etwas von deinen … Lernhilfen.«
Nun grinste Jan breit. »Ich verstehe. Die Dame lässt sich zu unsereins herab.«
»Hilfst du mir nun oder nicht?«, fuhr ich ihn an.
»Also Maggy, ich sag dir was. Das Zeug wächst nicht auf den Bäumen. Das heißt, vielleicht tut es das, ich habe keine Ahnung. Zumindest wächst es nicht in meine Tasche hinein, klar? Wenn du noch was willst, musst du mir im Gegenzug auch etwas geben.«
Ich atmete tief ein. »Wieviel willst du?«
»Achtzig.«
»Achtzig Euro?«, versicherte ich mich. »Das letzte Mal hast du mir das Zeug nachgeworfen, und ich habe gar nichts bezahlt!«
Jan zuckte mit den Schultern. »Ich kann´s dir natürlich auch umsonst geben …«
»Aber?«, hakte ich nach, als Jan nicht weitersprach.
Er grinste anzüglich. »Dafür müsstest du natürlich auch etwas für mich tun.«
Unvermittelt wich ich einen Schritt zurück und zog meinen Mantel enger um mich. »Also achtzig. Wann kann ich es dir bringen?«
Jan wirkte etwas enttäuscht, doch das hinderte ihn nicht daran, unerschütterlich weiterzugrinsen. »Wann immer du willst, Maggy, wann immer du willst. Ich werde hier sein.«
Ich nickte abgehackt. »Gut.«
Doch es war nicht gut. Es war das genaue Gegenteil von gut. Aber was nutzt die Erkenntnis, wenn man unfähig ist, sich dagegen zu sträuben?
 
Die Wochen vergingen, und meine guten Noten häuften sich. Das Erbrechen nach Stundenende oder unmittelbar davor war zu einem unverzichtbaren Ritual geworden. Zumindest hatte ich gelernt, den Brechreiz lange genug zu unterdrücken, um meinen Magen unbeobachtet und hinter geschlossenen Türen zu entleeren. Zu sagen, niemand schöpfe Verdacht, wäre eine Lüge gewesen – und tief in meinem Inneren wusste ich, dass sie es wussten – doch abgesehen von ein paar schalen Witzen, die seit jenem schicksalshaften Tag die Runde machten, ließen sie sich nichts anmerken.
Jan hingegen trieb mich in den Wahnsinn. Bei jedem Besuch in der zwielichtigen Gegend, die unser Treffpunkt geblieben war, erhöhte er den Preis für den Stoff, ohne es sich nehmen zu lassen, jedes Mal sorgfältig darauf hinzuweisen, dass ich ebenso gut nicht zu zahlen bräuchte, wenn ich denn nur wollte. Da diese Möglichkeit für mich nicht in Frage kam, nahm ich – wenn meine Unterrichtszeiten es zuließen – Teilzeitjobs an, um mir meine Noten zu finanzieren, oder schnorrte Familie und Bekannte an, wobei mir immer wieder die kreativsten Lügen einfielen, meine hohen Ausgaben zu rechtfertigen.
Dann kam der Tag, an dem alles nur noch abwärts ging. Es fing damit an, dass ich eine Prüfung in den Sand setzte. Als ich das rote, nachlässig hingekritzelte Genügend unter meiner Arbeit las, hielt ich es zunächst für einen schlechten Scherz. So etwas hatte es noch nie gegeben, und ich begriff einfach nicht, warum ich nicht wie üblich unter den drei Besten rangierte.
An diesem Abend traf ich Jan, um ihm mein Problem darzulegen.
»Das Zeug, das du mir gibst, ist nicht stark genug
»Du willst etwas Härteres?«, versicherte Jan sich. Er wirkte amüsiert.
»Verdammt, ja!«
»Das wird teuer, Mädchen.«
Ich biss mir krampfhaft auf die Unterlippe. »Ich kann mir deine Preise schon jetzt kaum mehr leisten. Du kannst nicht noch mehr verlangen, Jan! Das kannst du nicht!«
»Du müsstest nicht zahlen, das weißt du, Maggy.«
»Scher dich doch zum Teufel!«
Jan verzog unwillig die Lippen. »Schlecht gelaunt, was?
»Geldgieriger Bastard.«
»Jetzt hör mal zu, du kleine Schlampe.« Mit einem Mal schlug die Stimmung um, und in Jans Gesicht trat ein Ausdruck, den ich bisher noch nie darin gesehen hatte – etwas Boshaftes, Lauerndes, das ihn um Jahre älter wirken ließ. »Entweder, du zahlst, oder du machst dich dünn. Keine Kohle, kein Stoff, kapiert?«
Ich hob abwehrend die Hände. »Ist ja schon gut. Ich werde es schon irgendwie auftreiben. Wieviel willst du diesmal?«
»Fünfhundert.«
Ich stöhnte. »Jan, das ist Wahnsinn.«
»Das ist ein Freundschaftspreis«, widersprach der andere ernst. »Wir sprechen hier nicht von einer Packung Brausepulver, sondern von richtigen Mindblastern. Die Dinger könnten dich nach Harvard bringen, wenn du sie richtig einsetzt, alles klar?«
Ich seufzte. »Ich … ich überlege mir was, okay?«
»Das will ich doch hoffen. Vergiss nicht – du willst etwas von mir, nicht umgekehrt.«
Ich schaffte es nicht rechtzeitig, das Geld aufzutreiben. Vielleicht hätte ich versucht, Jan zu bitten, mir sein Wundermittel auf Rechnung zu stellen, doch nach jenem Gespräch, in dem er so klar ausgedrückt hatte, was er von Kunden hielt, die nicht zahlen konnten, wagte ich es nicht. So kam es, dass ich durch meine Prüfung rasselte – und obwohl ich nichts eingenommen hatte, erbrach ich mich, kaum dass ich den Stift fortgelegt hatte. Ich war körperlich wie geistig in einer erbärmlichen Verfassung – ich zitterte heftig, litt unter Schweißausbrüchen und war nicht in der Lage, meine Gedanken auf etwas zu konzentrieren. Immer wieder musste ich an die vertane Chance denken, die ich wegen des mangelnden Geldes versäumt hatte, und mit einem Mal fielen mir tausend Möglichkeiten ein, mit denen ich Jans Forderungen gerecht hätte werden können, hätte ich bloß die nötige Entschlossenheit besessen.
Die nächste Arbeit würden wir in vier Tagen schreiben, und bis dahin musste ich vorbereitet sein, ganz gleich, was es kosten mochte. Diese Gedanken quälten mich gerade, als sich jemand neben mich setzte und mich ansprach. Ich reagierte verzögert und hob den Kopf mit einer Anstrengung, als würde er Tonnen wiegen. Neben mir saß Richard, der mich erwartungsvoll ansah.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«, fragte ich müde, obwohl ich nicht die geringste Lust hatte, mich zu unterhalten.
»Du siehst nicht gut aus«, sagte Richard ernst.
»Danke für die Blumen.«
»Das ist nicht komisch. Du solltest zu einem Arzt gehen oder dir wenigstens ein paar Tage Auszeit nehmen. Das hat doch ohnehin keinen Sinn, wenn du dich jeden Morgen hierher schleppst. Du siehst aus, als würdest du kaum mehr mitbekommen, was um dich herum geschieht.«
»Es geht mir gut«, widersprach ich widerwillig. »Nur der Druck macht mich fertig.«
»Der Druck?«, wiederholte Richard.
»Der Schuldruck«, ergänzte ich. Mit einer Hand fuhr ich mir müde durch das schweißnasse Gesicht. Als ich heute morgen in den Spiegel geblickt hatte, war es aschgrau gewesen, ein Anblick, der mir nun schon seit langer Zeit täglich entgegenblitzte.
»Ich komme damit einfach nicht zurecht«, fuhr ich fort, und die Erschöpfung löste meine Zunge. »Ich wünschte, meine Noten wären mir egal, aber das sind sie nicht. Wenn ich nicht alles gebe, was in meiner Macht steht, fühle ich mich wie eine Verräterin an mir selbst.«
»So ein Unsinn.« Richard schüttelte den Kopf. »Es gibt wirklich Wichtigeres im Leben als Noten, Magdalena. Unser Glück ist, dass sie das Einzige sind, worüber wir uns im Augenblick Sorgen machen müssen.«
»Was soll das heißen?« Unvermittelt verschärfte sich mein Tonfall.
»Ich will damit nur sagen, dass das Leben viel größere Probleme für uns bereithält als das Fiebern auf Zahlen von eins bis fünf, das ist alles.«
»Du bist ein Dummkopf, so etwas zu glauben«, erwiderte ich weit schärfer als angebracht. »Denkst du etwa, das Leben fängt erst an, wenn wir volljährig sind? Willst du das damit sagen? Siehst du nicht, dass wir schon mitten drin sind, dass wir jetzt mit unseren Leistungen über unsere Zukunft entscheiden? Es ist ein Drahtseilakt ohne Netz. Das ist es, was es ist. Das und nur das …« Ich verstummte unvermittelt.
Richard zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Du solltest trotzdem über das nachdenken, was ich gesagt habe. Dass du dich selbst so fertig macht, tut auch deinen Noten nicht gut, das hast du selbst gesehen.«
»Wenn es doch nur daran läge …«, murmelte ich.
»Pass auf dich auf«, sagte Richard ernst, und in seinem Gesicht las ich, dass er meine halblaute Bemerkung gehört – und vielleicht sogar verstanden – hatte. Mit einem Mal fragte ich mich, wieviel er tatsächlich wusste.
»Deine Gesundheit ist wichtiger als deine Noten. Eine Klasse kann man wiederholen. Bei deinem Leben kannst du nicht einfach die Reset-Taste drücken und von vorne beginnen.« Und mit diesen Worten stand er auf und ließ mich allein zurück.
»Spinner«, murmelte ich.
Doch tief in meinem Inneren verunsicherte mich das, was er gesagt hatte. Für einen winzigen Moment sah ich sie aufblitzen – die allerletzte Ausfahrt, die von dieser Straße des Verderbens abfuhr. Doch ich konnte sie nicht nehmen, denn man hatte mich gefesselt und geknebelt auf die Ladefläche eines Jeeps geworfen, der mit hundertfünfzig Sachen gen Untergang bretterte und alles, was sich ihm in den Weg stellte, zu Staub zermalmte.
Was hätte ich da tun sollen, außer die Augen aufzureißen und mit taubem Schrecken zuzusehen?
 
»Wie läuft´s in der Schule, Maggy-Mäuschen? Lässt du dich auch nicht von den anderen Kindern ärgern?«
Ich presste die Lippen zusammen. »Lass den Unsinn, Jan. Ich bin nicht gekommen, um zu reden.«
Unvermittelt wurde Jan ernst. Seine Hand schlüpfte flink unter seine Jacke, wo sie sich um eine deutliche Ausbeulung in einer Innentasche schloss. Sein Gesichtsausdruck war merkwürdig angespannt – so unruhig war er noch nie gewesen.
»Es war gar nicht so einfach, das hier zu bekommen«, sagte er, und ich bemerkte, dass seine Stimme nicht mehr zwischen zwei Oktaven schwankte, wie sie es bei unserem ersten Treffen getan hatte. Sie war tief und rauchig geworden, die Stimme eines Mannes. Seit ich jenes unheilvolle Säckchen angenommen hatte, war viel Zeit vergangen, und es schien mir, als hätten wir all die Monate in einem Standbild gelebt, das unverändert blieb, während wir selbst älter und älter wurden und, die Blüte unserer Jahre überspringend, unaufhaltsam auf das Ende zuhielten.
»Ich habe wirklich eine Menge riskiert für dieses Zeug. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.«
Ich nickte bloß. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an, und hätte ich versucht, zu sprechen, hätte ich meiner Kehle kaum mehr denn ein würgendes Krächzen entlockt.
»Pass bloß auf mit dem Kram. Das kann verdammt gefährlich sein, wenn du die Dosierung nicht richtig hinkriegst.« Und tot nützt du mir nichts mehr, sagten seine eiskalten Augen.
Mein Lächeln schien wie aus Glas – eine falsche Bewegung meiner Lippen, und es würde zerspringen. »Ich weiß schon, was ich tue.« Fordernd streckte ich die rechte Hand aus. »Bekomme ich nun, weshalb ich gekommen bin?«
Obwohl Jan ebenso gut wie ich wusste, dass hier niemals jemand vorbeikam, zuckte sein Blick hektisch von einer Straßenseite zur anderen, bevor er die Hand wieder aus der Jacke hervorzog. Rasch reichte er mir eine kleine Schachtel aus billigem Karton, die ich gierig an mich nahm. Bevor ich sie in meiner Tasche verschwinden ließ, hob ich den Deckel und warf einen Blick hinein. Eine Einwegspritze mit Schutzkappe blitzte mir entgegen, daneben ein kleiner orange-brauner Behälter, angefüllt mit einem harmlos aussehenden, farblosen Pulver. Als ich den Deckel wieder auf die Schachtel setzte, zitterten meine Finger. Mit einem Mal war mir eiskalt.
Jan blickte mich erwartungsvoll an, schwieg jedoch.
»Du hast doch das Geld, oder nicht?«, fragte er, nachdem ich auch nach Minuten keine Anstalten gemacht hatte, ihn zu bezahlen.
Ein einzelner Schweißtropfen lief an meinem Hals hinab, und ich erschauerte heftig. »Nein«, sagte ich mit einer Stimme, die nicht die meine war. »Nein, das habe ich nicht.«
Jans Gesicht verdunkelte sich, und das dünne Ziegenbärtchen an seinem Kinn erbebte. »Du kannst mich nicht bezahlen?«
»Du sagtest, ich müsste nicht zahlen, wenn ich nicht wollte.«
Für einen Moment hielt der zornige Ausdruck in Jans Gesicht noch an, doch dann wich er einem leisen Erstaunen und machte schließlich einem lüsternden Grinsen Platz. Seine Hände zuckten unvermittelt in meine Richtung. »Ist das dein Ernst?«, krächzte er heiser.
Ich schlug die Augen nieder und nickte. Durch den Schatten meiner Wimpern sah ich, wie er sich mit ungeschickten, viel zu hastigen Schritten näherte, und ich konnte seine Erregung beinahe riechen. Er streckte eine Hand nach meinem Gesicht aus, und ich ließ zu, dass er mich berührte. Als er sich vorbeugte, um mich zu küssen, legte ich eine Hand auf seine Brust und schob ihn fort.
»Nicht.«
»Ich dachte …« Hinter der Verwirrung in Jans Stimme lauerte erneut jene brodelnde, mörderische Wut, die mir solche Angst einjagte.
»Du darfst«, sagte ich mit dumpfer Stimme, noch immer, ohne ihn direkt anzusehen, »doch ich möchte nicht, dass du mich dabei berührst oder küsst.«
Ich war nicht in der Position, Forderungen zu stellen, und ich wusste, wäre Jan nicht noch immer so überrumpelt von meinem unerwarteten Angebot gewesen, er hätte mir dies sehr deutlich klar gemacht. Doch im Augenblick war er zu sehr damit beschäftigt, seine glühenden Augen über meinen Körper wandern zu lassen, als dass er auch nur einen klaren Gedanken hätte formulieren können. Beinahe grob packte er mich am Handgelenk.
»Komm mit«, würgte er atemlos hervor, und ich ließ mich willenlos von ihm in die Dunkelheit ziehen. Die winzige Schachtel umklammerte ich dabei wie eine Ertrinkende ein Stück Treibholz.
Und als wir begannen, da fühlte ich nichts – nicht das Geringste.
 
Brodelnd schlug die zähe Flüssigkeit Blasen, türmte weiße Schaumberge auf und ließ sie im selben Moment, in dem sie entstanden, wieder in sich zusammenfallen. Scharfe, unangenehm süßliche Dämpfe stiegen mir in die Nase, Dämpfe, die mein Gehirn wie eine Reihe elektrischer Stromschläge durchzuckten und mich hellwach werden ließen. Meine Hand, die den Löffel mit der schmelzenden Substanz hielt, zitterte so stark, dass ich ernshaft fürchtete, etwas von dem so teuer – bei Gott, so schrecklich teuer – erkauften Mittel zu verschütten.
An meiner Zimmertür klopfte es, und die Türschnalle wurde vergebens hinuntergedrückt. Seit einigen Wochen ließ ich mein Zimmer stets versperrt, sowohl, wenn ich mich darin aufhielt, als auch, wenn ich außer Haus war. Alles andere wäre zu riskant gewesen.
»Magdalena, Essen ist fertig!«
»Ich esse später«, rief ich zurück, während ich den Löffel leicht schräg hielt, um die Flüssigkeit optimal zu verteilen.
»Wann?«, fragte eine ungeduldige, durch die Verzerrung des Holzes geschlechtlose Stimme. Mutter? Vater? Bedeutungslos.
»Ich bin mitten im Lernen. Außerdem habe ich ohnehin keinen Hunger.«
»Na gut. Aber dass du mir nicht vom Fleisch fällst, ja?«
Ich blies die Kerze aus, über der ich das weiße Pulver hatte schmelzen lassen, und suchte mit der freien Hand nach der Spritze, die ich mir vorsorglich bereit gelegt hatte.
»Mach dich nicht lächerlich. Als würde ich Gefahr laufen, zu verhungern.«
Ein gedämpftes Lachen drang durch meine Zimmertür, dann erklangen Schritte, die sich rasch entfernten – gefolgt vom Geräusch einer Tür, die ins Schloss gezogen wurde.
Behutsam zog ich die Substanz auf die Spritze. Es ging überraschend leicht, und ich fragte mich, ob es ebenso leicht sein würde, sie in meine Adern zu entleeren.
Ich schob die Schutzkappe über die lange, unglaublich spitze Nadel und verstaute die Spritze in der Schachtel, die ich unter mein Bett schob. Anschließend widmete ich mich der Mappe, die seit meiner Heimkehr geöffnet, doch unberührt auf meinem Bett lag. Während ich die Phrasen und Begriffe leise vor mich hinmurmelte, tastete ich mit einer Hand nach der Schachtel unter meinem Bett, deren bloße Anwesenheit mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelte. Tief über meine Unterlagen gebeugt und eine Hand noch immer auf meinem so hart erkämpften Mittel zum Erfolg, schlief ich ein.
 
Als der Tag kam, fühlte ich mich wie gestorben.
Anders war mein Zustand nicht zu umschreiben. Ich wusste, dass ich Schmerzen hätte spüren sollen – ganz besonders im Unterleib – , doch da war nichts. Gar nichts. Mein Körper war taub und so schweigsam, als hätte er es aufgegeben, mich auf seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Nur hinter meiner Stirn saß ein glühendes, hell loderndes Feuer, das ich in meinen Augen funkeln sah, wenn ich in den Spiegel blickte – zwei glimmende, pechschwarze Kohlen, die tiefe Gräben in eine Landschaft aus Schnee geschmolzen hatten.
Vor Beginn der Prüfung – die letzte große Arbeit vor Ende des ersten Semesters – schloss ich mich auf der Toilette ein, wobei ich sehr sorgsam darauf achtete, von niemandem gesehen zu werden. Ich setzte mich auf den geschlossenen Toilettendeckel, die kleine, so harmlos wirkende Schachtel auf dem Schoß, und klappte den Deckel hoch. Ich mochte keine Spritzen – wer tat das schon? – und bei dem Gedanken, dass ich mir diese lange Nadel gleich ins Fleisch jagen würde, erbebte ich voller Abscheu und Furcht. Doch ich hatte zu viel für das hier riskiert, um nun einen Rückzieher zu machen.
Der misstönende Klang der Glocke nahm mir die Entscheidung ab. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich noch zu spät kommen.
Mit flinken Fingern zog ich die Schutzkappe von der Nadel und hielt die Spritze kurz gegen das Licht, um zu kontrollieren, ob die Substanz auch keine Luftbläschen enthielt. Dann stieß ich die Nadel tief in meinen Unterarm und drückte den Kolben hinunter. Im ersten Moment hätte ich vor Schmerz beinahe aufgeschrien, dann wich das glühende Pulsieren in meiner Vene einem angenehm tauben Gefühl, das sich nach und nach in meinem gesamten Blutkreislauf verteilte und sich in meinen übrigen Gliedern einnistete. Ein heftiges Schwindelgefühl überkam mich, und beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre kopfüber von der Kloschüssel gestürzt. Ein Stöhnen, halb schmerzerfüllt und halb lustvoll, glitt über meine Lippen, als ich spürte, wie etwas unglaublich Starkes einem eisernen Besen gleich durch meine Gedanken fuhr – ein Gefühl, als würde mein Hirn mit einem Mal schockgefroren.
»Gott!«
Mit einem Mal stiegen mir heiße Tränen in die Augen. Ich zog mir die Spritze aus dem Arm und warf sie in die Schachtel. Dass ich mir auf die Zunge gebissen hatte, bemerkte ich erst, als ich Blut spuckte.
»Gott!«
Die Prüfung! Sie musste längst angefangen haben!
Als ich mich aufrappelte, wurde mir schwarz vor Augen. Ich ließ meinem Kreislauf keine Zeit, sich zu erholen, sondern taumelte halb blind aus der Toilette und hinaus in den Gang. Da der Unterricht bereits begonnen hatte, begegnete ich keinem anderen Schüler, als ich meine Schachtel rücksichtslos in den Spind warf und in den Klassenraum stolperte. Ich hatte Glück – noch hatten sie nicht begonnen.
Als ich, mich mit der pochenden linken Hand an der Wand abstützend, zu meinem Sitzplatz tastete, warf Richard mir einen merkwürdigen Blick zu. Für einen Moment verharrten seine Augen auf meinem Unterarm, und als ich an mir herabblickte, registrierte ich mit Entsetzen, dass mein Ärmel noch immer hochgeschoben war, das verräterisch glänzende Rot in meiner Armbeuge deutlich sichtbar. Hastig bedeckte ich das Zeugnis meiner Missetat. Als ich den Kopf hob, traf mein Blick direkt auf den Richards. Sein Gesicht war wie versteinert, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der wie bitterer Vorwurf wirkte.
Sein Anblick erfüllte mich mit Wut. Wer gab ihm das Recht für dieses bittere Senken der Augenlider, für die leichte Seitwärtsbewegung des Kopfes, als wollte er ein Kopfschütteln andeuten? Wie konnte er hier sitzen, er, dessen größter Triumph seiner Schulzeit darin bestand, jedes Jahr den Aufstieg geschafft zu haben, und sich für etwas Besseres halten? Ich hatte alles getan, um dort zu landen, wo ich nun war, hatte sogar meinen Körper hingegeben, und alles, was ich zum Lohn erntete, war ein enttäuschter Blick und den Vorwurf, es nicht besser gemacht zu haben? Ich hatte allen Grund, blind vor Wut zu sein!
Wahrscheinlich hätte ich mich ohne jedes Zögern auf Richard gestürzt und wäre ihm an die Kehle gesprungen, hätte ich nicht in just diesem Moment den Fragebogen für die Prüfung in die Hand gedrückt bekommen. Noch immer zuckten heiße Blitze hinter meiner Stirn und in meinem Hinterkopf, Blitze, die sich entladen mussten oder, wenn das nicht möglich war, in meinem Verstand einschlagen und ihn versengen würden.
Mit knirschenden Zähnen griff ich mir einen Stift und beugte mich tief über die Prüfung. Als ich zu schreiben begann, zitterten meine Finger so heftig, dass ich kaum einen klaren Buchstaben aufs Papier bannen konnte. Doch was viel wichtiger war – ich wusste alles. Mit einem Mal erschien mir dieser Test banal und unbedeutend, und ich beantwortete die Fragen mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte ich dieses Wissen bereits mit der Muttermilch in mich aufgesogen. Das Blitzgewitter indessen steigerte sich hinter meinem Stirn zu einem wahren Feuerwerk, und ich versank in einer Welt aus Funkenflug und dem hartnäckigen Kratzen der Füllfederspitze auf Papier. Erst, nachdem ich allen Platz, der mir zur Verfügung stand, mit Worten gefüllt hatte, verblassten die grellen Farben zwischen meinen Schläfen und ließen mich allein in einer dunklen, eisigen Kammer, in der mir die Nervosität aus früheren Tagen wie die heiß ersehnte Gesellschaft erschien, die ich mit dem Gift in meinen Adern vertrieben, vielleicht sogar getötet hatte.
Als ich mich erhob, das Blatt Papier in der schweißnassen, zur Klaue verkrümmten Hand, fühlten sich meine Beine an, als enthielten sie keinen einzigen Knochen mehr. Meine Ohren summten hoch und laut, rau rieb meine Zunge über meine aufgebissenen Lippen. Mit überdeutlicher Klarheit registrierte ich, wie ich drohte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Für einen Moment hallte Jans Stimme in meinem Kopf wider – … kann verdammt gefährlich sein, wenn du die Dosierung nicht richtig … – und der Gedanke erleichterte mich. Ich verlor das Gleichgewicht und verfolgte mit einem Hauch von Erstaunen, wie der Boden mich ansprang wie ein gieriges Tier. Doch ich hatte keine Angst vor dem Fall. Nein, jetzt nicht mehr. Denn ich war bereits ganz unten angelangt.
 
 
29. September – 12. Dezember 2008
Nichts Besonderes
Sternenrequiem
Der Schattenmann
Der Höhenflug
Der Hafen
Luzif(w)er?
Nacktfalter
Der Krähe Nest
Verirrt in mir
Im Nebel
Wundes Ackerland
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