Melanie VogltanzAutorenhomepage
HomeVeranstaltungenVeröffentlichungenPorträtGedankenhausKontaktDatenschutzerklärung
Der Schattenmann
Bei der folgenden Geschichte handelt es sich genaugenommen gar nicht um eine Geschichte, sondern um eine Idee, die ich weiter ausführen wollte - und es auch getan habe. Das Ergebnis dieser Ausführungen hat mich niemals befriedigt, daher lesen Sie anschließend auch nicht die eigentliche Geschichte, sondern lediglich diesen kleinen Monolog, der mir eines Nachts vor dem Einschafen in den Kopf schoss und mich einfach nicht mehr losließ. Daraus eine epische Erzählung zu machen, ist mir nie geglückt, und mittlerweile weiß ich, dass es auch besser so ist, denn diesen klaren, ursprünglichen Grundgedanken durch eine Rahmenhandlung zu verunreinigen, erscheint mir mittlerweile beinahe wie eine Vergewaltigung.
Um schon von vornherein eine Frage zu beantworten, die Sie sich vielleicht während des Lesens stellen werden: ich habe mich nie im Dunkeln wohl gefühlt.


Haben Sie schon einmal vom Schattenmann gehört?
Vielleicht kennen Sie ihn unter Bezeichnungen wie der Schwarze Mann oder der Buhmann. Doch all diese Namen finde ich nicht treffend. Für mich war er seit jeher der Schattenmann.
Ich lernte ihn kennen, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war. Wenn ich genau darüber nachdenke, begleitet er mich schon, solange ich zurückdenken kann. Vor allem, wenn ich alleine war, leistete er mir Gesellschaft – eine sehr schweigende, unheimlich stille Gesellschaft, doch in der Einsamkeit machte das für mich keinen allzu großen Unterschied.
Unter tags bekam ich ihn kaum zu Gesicht – das Licht bekommt ihm nicht, ich glaube, es macht ihn krank – doch des Nachts, wenn es dunkel ist und nur der fahle Schein der Straßenlaternen durch die Vorhangritzen fällt, wagt er sich heraus.
Sie müssen wissen, im Grunde seines Herzens ist der Schattenmann ein scheuer Geselle, um nicht zu sagen schüchtern. Ich kenne ihn nun schon seit vielen Jahren, doch ich habe noch nie sein Gesicht gesehen. Er verhält sich wie ein Schuljunge, der seine Angebetete aus der Ferne beobachtet und rasch den Blick abwendet, wenn sie ihm in die Augen sieht. Warum er sich so verhält, vermag ich nicht zu sagen.
Meist versteckt er sich vor mir, an Orten, die dunkel und schwer zu erfassen für das menschliche Auge sind. Ich erhasche die Umrisse seiner mageren Gestalt unter meinem Schreibtisch, unter den er huscht, wenn ich mein Arbeitszimmer betrete. Dort hockt er dann zwischen vertrockneten Fliegenkadavern und grauen Wollmäusen und sieht mir dabei zu, wie ich das Zimmer durchquere und auf ihn zukomme. Wenn ich mich auf meinen Stuhl setze und die Schreibtischlampe anmache, ist er meist schon verschwunden.
Ich höre seinen keuchenden, nervösen Atem im Schrank, wenn die Türen einen Spalt breit offen stehen. Manchmal mischt sich in das Geräusch seines Atems auch das Rascheln meiner Kleidung, die er zur Seite schiebt, um mich besser sehen zu können.
Oder ich fühle seine Anwesenheit in meinem Rücken, wenn ich einfach nur in der Dunkelheit stehe und vor mich hinstarre. Dann habe ich das Gefühl, er müsste jeden Augenblick seine langen Schattenfinger nach meiner Schulter ausstrecken und mich berühren, ganz flüchtig nur, wie ein Windhauch, der einen streift. Doch gleich, wie lange ich warte, nichts geschieht.
Oft liegt er in meinem Bett, wo er sich zwischen die schwarzen Schluchten der Falten, die sich in Kissen und Decke gebildet haben, presst. Dort wird er geradezu unsichtbar, doch ich sehe ihn trotzdem, denn ich weiß, dass er da ist. Dann lege ich mich zu ihm und spüre seinen heißen Atem im Nacken. Meist liege ich dann noch stundenlang wach, mit in der Dunkelheit weit aufgerissenen Augen, und warte darauf, dass er mich alleine lässt.
Doch trotz seiner Scheu ist der Schattenmann ein mehr als anhänglicher Zeitgenosse. Hat er erst einen Narren an dir gefressen, lässt er dich nicht mehr los.
Ein Schuljunge mit einer ausgeprägten Stalkernatur.
Wohin ich auch ging – der Schattenmann folgte. Bei jedem Umzug konnte ich darauf zählen, dass er in meinem Gepäck saß, bereit, nach Sonnenuntergang daraus hervorzukriechen und seine neuen alten Stammplätze aufzusuchen. Ich glaube, er wird niemals von meiner Seite weichen.
Wenn man so lange mit jemanden zusammenlebt, beginnt man irgendwann, sich Fragen zu stellen. Und wenn keine Antworten zur Verfügung stehen, spekuliert man.
Eine Sache, die mich ganz besonders beschäftigte: wohin zieht der Schattenmann sich tagsüber zurück? Hat er ein eigenes Haus, vielleicht sogar eine Familie; eine Schattenfrau und zwei Schattenkinder, mit einer heimlichen Schattengeliebten?
Ich weiß nicht, wie ich zu diesem Schluss kam, doch irgendwann fraß sich die Vorstellung in mir fest, dass die Heimat des Schattens in den Spiegeln liegen muss.
Ich erkläre Ihnen gerne, warum mir diese Möglichkeit so naheliegend erscheint.
Wenn man in einen Spiegel blickt, zeigt dieser für gewöhnlich ein genaues Abbild seiner Umgebung. Ich sage bewusst »für gewöhnlich«, denn dies muss nicht immer der Fall sein. Wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf die Spiegeloberfläche fällt, wird er pechschwarz. Dieses erstaunliche Phänomen beobachte ich meist während der Dämmerung, wenn die letzten Sonnenstrahlen sich auf der Spiegeloberfläche brechen. Das ist die Zeit, in welcher der Schattenmann sein Nachtlager verlässt, um die Dunkelheit mit Leben zu erfüllen. Der Spiegel bleibt dunkel, bis das Licht die Welt zurückerobert und ihn wieder in sein Versteck treibt.
Die Reflexion, die wir tagsüber sehen, halte ich für eine Schutzfunktion, die verhindern soll, dass der Schattenmann mit dem schädlichen Tageslicht in Berührung kommt. In einem Spiegel fängt sich das Licht, es wird geradezu gebündelt.
Dahinter, also im Inneren des Spiegels, muss absolute Dunkelheit herrschen. Der Gedanke an eine solche Welt lässt mich immer wieder erschauern – wie muss es an einem Ort aussehen, den noch nie zuvor ein Sonnenstrahl berührt hat? Wo ewige Nacht herrscht, eine Nacht, die so finster ist, dass sie den Mond und jeden Stern verschlingt?
Doch so sehr mir vor diesen Gedanken graut – ich bezweifle nicht, dass dies der ideale Ort für den Schattenmann ist, sich auszuruhen und Kraft für die nächste Nacht zu sammeln.
Wenn ich einem Spiegel den Rücken zudrehe – ob Tag oder Nacht ist nicht von Belang – kommt es mir so vor, als würde sich in dieser winzigen Sekunde, in der ich mich abwende, eine Gestalt zu meinem Konterfei gesellen. Sie ist nicht klar erkennbar, nicht mehr als der Schatten eines Schattens, und trotzdem sehe ich sie. Denn mein gestaltloser Freund will gesehen werden. Ich glaube, das ist sein einziger Daseinszweck.
Damit habe ich Ihnen alles über den Schattenmann erzählt, was ich weiß – und vieles, was ich nur ahnen kann.
Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.
Glauben Sie mir – das ist mehr als genug.


10. September 2008
Nichts Besonderes
Sternenrequiem
Der Schattenmann
Der Höhenflug
Der Hafen
Luzif(w)er?
Nacktfalter
Der Krähe Nest
Verirrt in mir
Im Nebel
Wundes Ackerland
HomeVeranstaltungenVeröffentlichungenPorträtGedankenhausKontaktDatenschutzerklärung